Pferde können nicht rechnen – oder etwa doch? Vor diese Frage wurden Wissenschaftler und Psychologen einige Jahre vor Beginn des ersten Weltkrieges von einem Pferd mit dem gewöhnlichen Namen Hans gestellt.
Hans war ein Pferd der Rasse Orlow-Traber und wurde um das Jahr 1895 geboren. Sein Besitzer war Wilhelm von Osten, ein Mathematiklehrer aus Berlin, der von seiner Kompetenz als Lehrer derart überzeugt war, dass er sich sicher war, sein Pferd ebenfalls unterrichten zu können. Der passionierte Lehrer schaffte es augenscheinlich sogar, seinem Pferd Hans neben dem Buchstabieren und Abzählen von Gegenständen und Personen auch noch sämtliche Grundrechenarten beizubringen. Ein Pferd, das durch Kopfschütteln oder Nicken und Klopfen mit den Hufen einfache arithmetische Aufgaben lösen konnte, hatte die Welt zuvor noch nie gesehen. Damit ging es als der „Kluge Hans“ in die Geschichte ein.
Ehrliches Talent oder nur Hokuspokus?
Die Neuigkeit vom „Klugen Hans“ verbreitete sich schnell und brachte neben einigem Staunen auch etliche Zweifler hervor. Konnte es wirklich möglich sein, einem gewöhnlichen Pferd derartiges Wissen zu vermitteln? War der Kluge Hans so intelligent? (siehe hierzu auch unseren Beitrag: „Wie intelligent sind Pferde?“
Um diese Frage zu beantworten, wurde im September 1904 eine Kommission aus dreizehn Wissenschaftlern zusammengestellt, die der Sache auf den Grund gehen und von Ostens Lehrmethoden genauer unter die Lupe nehmen sollte.
Die Kommission wurde von Carl Stumpf geleitet, der Professor für Philosophie und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften war. Da man zunächst von einem Betrug oder billigen Trick ausging, war man umso überraschter, als der „Kluge Hans“ die Fragen, die ihm gestellt wurden, mit einer überzeugenden Mehrheit richtig beantwortete – auch dann, wenn sein Besitzer nicht zugegen war und ein Fremder die Fragen stellte.
Der „Kluge Hans“ klopfte brav jedes Mal so lange mit dem Huf auf den Boden, bis er die richtige Antwort herausgefunden hatte. Von diesem Ergebnis war man mehr als verblüfft, doch schließlich fand Stumpfs Assistent Oskar Pfungst, ein Psychologiestudent, eine plausible Erklärung für das beobachtete Phänomen.
Von Ostens Pferd war in der Tat außergewöhnlich begabt, doch es konnte keinesfalls rechnen oder buchstabieren. Stattdessen besaß der „Kluge Hans“ eine verblüffende Auffassungs- und Beobachtungsgabe. Er hatte mit der Zeit gelernt, die unterbewussten Reaktionen des Fragestellers zu interpretieren. Man fand heraus, dass Hans jede Antwort geduldig mit dem Huf abklopfte bis ihm eine Veränderung in der Mimik oder Gestik seines Gegenübers die erwartete Antwort verriet. Diese Antwort nickte er anschließend ab, da er gelernt hatte, dass dieses Verhalten ihm die meisten Belohnungen einbrachte. Dabei reichten schon kleinste Veränderungen wie ein Zucken in der Augenbraue vollkommen aus, um die richtige Lösung zu verraten. Das Rätsel um den „Klugen Hans“ war damit gelöst. Von Osten war über das Untersuchungsergebnis zunächst jedoch sehr verärgert und erlaubt anschließend keine weiteren Untersuchungen mehr, doch schon bald ignorierte er die gewonnenen Erkenntnisse und setze seine Bemühungen und Lehrversuche fort.
Kluge-Hans-Effekt: Eine wichtige Erkenntnis für die Wissenschaft
Zwar hatten die Untersuchungen ergeben, dass der Kluge Hans nicht gelernt hatte zu rechnen oder zu buchstabieren. Dennoch konnte die Wissenschaft eine grundlegende Erkenntnis daraus gewinnen, die heute als sogenannter „Kluger-Hans-Effekt“ bekannt ist. Der „Kluge-Hans-Effekt“ beschreibt die unbewusste Beeinflussung des Verhaltens von Versuchstieren durch das eigene Verhalten und die eigene Erwartungshaltung mit der Folge, dass bei einem Versuch der erwartete Effekt eintritt.